Sonntag, 1. August 2010

Das Massaker in Afghanistan

Von Marianne Wellershoff

Trotz scharfer Kritik der US-Regierung zeigte die ARD den umstrittenen Dokumentarfilm "Das Massaker von Afghanistan" des Iren Jamie Doran. Handfeste Beweise für Kriegsverbrechen der Amerikaner gab es nicht zu sehen, aber immerhin belastende Augenzeugenberichte. Eine Uno-Kommission soll die Wahrheit ans Licht bringen.

Trauriger afghanischer Gesang, ausgemergelte gefesselte Taliban mit Turbanen, schwarz-weiße Zeitlupenbilder von Männern, die in einen Container verladen werden, dann die weiß-auf-schwarze Anklageschrift: "Das Massaker von Afghanistan. Haben die Amerikaner zugesehen?"

Mit viel Pathos begann der umstrittene Dokumentarfilm von Jamie Doran, den die ARD (nach der italienischen Rai und dem britischen Channel 5) gestern um 21.54 Uhr zeigte: Der Ire legt darin den Verdacht nahe, dass amerikanische Soldaten im Dezember 2001 einem Massaker an mindestens 3000 gefangenen Taliban tatenlos zugeschaut haben. Das amerikanische Außenamt hatte schon vorab gegen die Ausstrahlung des Film protestiert: "Uns ist rätselhaft, warum eine angesehene Fernsehanstalt eine Dokumentation zeigen will", sagte der Ministeriumssprecher Larry Schwartz, "deren Fakten vollständig falsch sind."

Von "vollständig falsch" kann allerdings keine Rede sein. Denn zunächst erzählt Doran in seinem Film erst einmal nach, worüber heute kaum noch Zweifel besteht: Die Truppen des berüchtigten usbekischen Generals Raschid Dostam, heute Vize-Verteidigungsminister in Kabul, hatten in den Städten Masar-i-Scharif und Kunduz etwa 8000 Taliban und al-Qaida-Kämpfer gefangen genommen. "Wenn Dostam seine Schlachten plante", so der Off-Kommentar des Films, "waren immer Soldaten der amerikanischen Spezialeinheiten an seiner Seite."

Die 470 Ausländer ­ Araber, Pakistaner, Tschetschenen ­ unter den Kriegsgefangenen wurden in die Festung Kalai Janghi gebracht, wo ihnen ein Aufstand gelang. Doran zeigt Ausschnitte der Filmaufnahmen, die westliche Medien vom Kampf um die Festung machten. 86 Gefangene überlebten die Schlacht, unter ihnen auch der amerikanische Talib John Walker Lindh. Dass bei dem Kampf auch viele ihrer Kameraden starben, habe bei den Soldaten der Nordallianz Rachegelüste geweckt, so die These Dorans: "Von diesem Augenblick an gab es keine Rücksicht mehr", heißt es im Off-Kommentar.

Die übrigen rund 7500 Taliban seien dann in das Gefängnis von Schiberghan, das überhaupt nur für 600 Menschen Platz biete, transportiert worden: erst auf offenen Lastwagen und dann in Containern. Bis zu 300 Menschen seien in jeden Container gestopft worden. Doran zeigt die Verladung, wie eine kurz eingeblendete Erklärung klarstellt, in nachgestellten Zeitlupenbildern. Authentische Fernsehaufnahmen des Geschehens gibt es nicht.

Wie auch nicht für alles weitere, was der Film nun behauptet: Nordallianz-Soldaten hätten Löcher in die Container geschossen und dabei mehr oder weniger absichtlich einige der in die Container gequetschten Kriegsgefangenen getötet oder verletzt. Es habe trotzdem noch zu wenig Sauerstoff gegeben, so dass weitere Taliban starben. Und schließlich seien mehr als 3000 der Gefangenen niemals in dem Gefängnis von Schiberghan angekommen ­ sondern in die Wüste Dasht-i-Laili gebracht worden. Die Ohnmächtigen und Verletzten seien erschossen und zusammen mit den Toten aus den Containern in einem Massengrab verscharrt worden. Das berichten zwei der Lkw-Fahrer vor der Kamera, die die Container in die Wüste gefahren hatten. "30 bis 40" amerikanische Soldaten hätten den Erschießungen zugeschaut.

Dass es dieses Massengrab gibt, daran besteht heute kein Zweifel mehr ­ im Frühjahr 2003 soll eine offizielle Uno-Kommission das damalige Geschehen untersuchen. Aber dass die US-Soldaten von dem Massaker wussten, dass sie ihm sogar tatenlos zugesehen hätten ­ dafür legt Doran keinen Beweis vor. Lediglich ein unscharfes Foto zeigt, dass sie überhaupt im Gefängnis von Schiberghan waren.

Grundlage für Dorans ungeheuerliche Anschuldigungen sind also allein Aussagen von Augenzeugen. Aus Angst vor Rache treten sie nur mit gepixelten Gesichtern und verzerrter Stimme im Film auf, seien aber, so Doran, bereit, ihre Berichte vor internationalen Gerichten zu wiederholen. Zwei der Zeugen seien vor wenigen Tagen ermordet worden, heißt es im Off-Kommentar des Films; welche es waren, wird verschwiegen, warum auch immer.

Es ist ein wirkliches Verdienst von Doran, dass er es mit seiner achtmonatigen Recherche geschafft hat, das Massaker an den Taliban öffentlich zu machen und eine Untersuchung in Gang zu setzen. Ob seine Beschuldigungen gegen die Amerikaner richtig sind oder jeder Grundlage entbehren, wird dann hoffentlich aufgeklärt werden. Dass Doran aber zu Beginn seiner Dokumentation das einstürzende World Trade Center zeigt und die Zahl der Opfer mit der Zahl der vermutlich ermordeten kriegsgefangenen Taliban vergleicht, um seinen Film zu rechtfertigen, ist ein ungeheuerlicher Missgriff. Tote kann man nicht aufrechnen.

Quelle: Spiegel.de

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